2. November 1997





Boris Groys, postmoderne Dissidenz und das Rennen um die Repräsentation

Benjamin Beck/Ulrich Gutmair


[text als audiofile]


Nur auf dem Diercke-Weltatlas ist Rußland riesig. In den kulturellen Kartographien stellt sich Rußland dagegen als beinahe raumlose Grauzone dar: Es liegt auf der Demarkationslinie zwischen Europa und den außereuropäischen Anderen. Konzeptkünstler und postmoderne Dissidenten im Moskau der 70er und 80er entzogen sich mit semiöffentlicher Kunstproduktion nicht nur der offiziellen Kulturpolitik des Regimes, sondern bewahrten auch die Distanz zur westlichen Kulturindustrie:

(Groys:Latenz)

...so der Theoretiker Boris Groys, der neben Ilya Kabakov zu den Exportschlagern sowjetischer Postmoderne zählt. Daß Künstler und Theoretiker wie sie inzwischen im Westen angekommen sind, verdanken sie eben dieser produktiven Spannung, die von der Peripherie aus neue Erkenntnisse über die Kulturökonomie Europas hervorgebracht hat. Wo sich für Europa in den Künsten Antworten auf immer neu gestellte Sinnfragen manifestieren, ist für Groys eine ökonomische Operation am Werk, die stetig und ausschließlich an der Produktion des Neuen interessiert ist. Allen Ideologien zum Trotz interessiert sich die Maschine Museum nur für diese Produktion eines jeweils Neuen, das sich im Vergleich zu bereits vorhandenen Operationen und Artefakten konstituiert:

(Groys:Museum/Vergleich)

Russische Kunst hat es schwer, auf den europäischen Kunstmärkten etwas anderes zu repräsentieren als das exotische Andere aus dem Land von Väterchen Frost. Das jedenfalls behauptet Viktor Misiano dessen Center for Contemporary Art die Überlebenden sowjetischer Dissidentenkunst vertritt. Das Center ist eine der wenigen russischen Galerien, die als Handelspartner im globalen Kunstmarkt ins Geschäft gekommen sind.

Dieser periphere Status wurde für manchen Künstler zum eigentlichen Thema. So zum Beispiel Oleg Kulik und Alexander Brenner während des Stockholmer Interpol-Projekts im Februar 1996, das sich dem Dialog zwischen Ost und West widmen sollte. Dieser Dialog ging ihrer Meinung nach allerdings nicht über einen selbst-referentiellen demokratischen Diskurs hinaus. Als Reaktion darauf führten sie einem europäischen Publikum dessen Lieblingsversion des wilden, intuitiven Russen vor: Kulik verwandelte sich in einen Hund und versuchte die Sponsoren des Projekts in die Waden zu beissen, um das Gesetz des Dschungels wiederherzustellen, also die wahre Demokratie, wie er sagte, während Brenner die Arbeit seiner taiwanesischen Kollegin Wenda Gu zerstörte. Anfang 97 betrat Brenner mit einer Spraydose bewaffnet schließlich das Amsterdamer Stedelijk Museum und besprühte Malevitschs Werk "Weisser Suprematismus 1922-27" mit einem rahmenfüllenden grünen Dollarsymbol. Er wollte damit Malevitschs ursprünglicher Intention der Veränderung der kapitalistischen Welt wieder Geltung verschaffen, die das Werk als Ware im Kunstmarkt verloren hatte. Kulik und Brenner wollten das Projekt der revolutionären Avantgarde vor ihrer Domestizierung retten und schrieben sich ganz nebenbei in die relevanten Diskurse der Kunstwelt ein: Die Debatte über die russischen Schmuddelkinder wurde in der renommierten Flash Art prompt eröffnet. Die Künstler scheinen damit genau das verinnerlicht zu haben, was der Theoretiker Groys als das Prinzip der Avantgarde beschreibt:

(Groys:modern)

Einfach nur zu sein brauchen inzwischen diverse Kollegen Brenners und Kuliks. Soeben wurde in der schicken Berliner Fasanenstraße die Galerie Hohenthal und Bergen neu eröffnet, die mit einer Gruppenausstellung russischer Konzeptualisten und Postmoderner startete. Zwischen streng intellektuellen Kunstwerken sind dort - 1997 - tatsächlich noch antikommunistische Perestrojkaapplikationen in Form einer Kollektion handelsüblicher Leninbüsten zu bestaunen, die anläßlich der Vernissage von Boris Groys persönlich dem Berliner Publikum nahegebracht wurden. Mit fortschreitender Integration in den Weltmarkt scheint sich die Kritik aus der Peripherie selbst eingeholt zu haben. So sind die Anderen dort angekommen, wo das bürgerliche Individuum des Westens unter dem Zwang der Selbstinszenierung schon lang mit seiner Aufklärung am Ende ist. Sieger im ewigen Rennen um Repräsentation bleiben ungewollt die Unterschichten. Den Marginalisierten ist diese Sportart traditionell egal.

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- 2.November 1997 -


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