William Gibsons "Idoru" betreibt Rasterfahndung in der Zielgruppe

"Pop culture is the testbed of our futurity...."

Ulrich Gutmair



...und Geschichtsschreibung ist die Science Fiction der Vergangenheit - ein Blick auf den Klappentext von William Gibsons neuestem Roman "Idoru" genügt: "Gibson is credited with having coined the term 'cyberspace', and with having envisioned both the Internet and Virtual Reality, before either existed." (1) Natürlich entstammt das Internet nicht Gibsons Vorstellungskraft, trotzdem bietet der Klappentext eine interessante Version der Ereignisse, und zwar nicht nur, wenn man sich dafür interessiert, wie Bücher verkauft werden. Ohne es zu wissen vermittelt er eine Ahnung vom komplexen, beinahe dialektischen Verhältnis von imaginierten Zukünften und solchen, die zu einer technologischen Konstruktion gesellschaftlicher Gegenwart gerinnen. Tatsächlich scheint die Geschichte der neuen Informationstechnologien und die des Nachdenkens über ihre Zukunft wie die zwei Seiten einer Möbiusschleife auf merkwürdige Weise inter-aktiv miteinander verknüpft zu sein.

Die erste Mailingliste in den 70ern, die sich das Internet als etwas anderes als ein militärisch-technologisches Werkzeug vorstellen konnte, war ein Medium, in dem man über Science-Fiction debattierte: "SF-Lovers" war ihr Titel. Umgekehrt beruht das Selbstverständnis und der Jargon einer ganzen Generation von Cyberpunks (!), die heute im Netz aktiv sind, auf Mythologien aus der Zukunft, denen Gibsons frühe Short Stories und Romane die Blaupause geliefert haben. Aber auch die Industrie selbst läßt sich von Gibsons dunklen Träumen inspirieren. "Fragments of a hologram rose", Gibsons erste, 1977 veröffentlichte Kurzgeschichte, erzählte die Geschichte eines Medienjunkies. ASP, Apparent Sensory Perception, ist Gibsons Bezeichnung für eine Technologie, die in "Strange Days" noch einmal recht anschaulich beschrieben wurde. Menschliche 'Kameras' nehmen Situationen inklusive den dazugehörigen Emotionen und Hirnwellenmustern auf, die sich fröhliche Konsumenten dann als Surrogate von 'Erfahrungen' direkt ins Nervensystem downloaden können. Ziemlich genau 20 Jahre nachdem sich Gibson für die "Fragments" als Metapher auf uns Medienkonsumenten an die Textverarbeitung gesetzt hatte, berichtete WIRED im September '96 von Sonys Entscheidung, eine ganz spezielle Form von Grundlagenforschung zu betreiben. Unter der Leitung des Mathematikers Yoichiro Sako wurde ein neues Labor gegründet, das das Phänomen psychischer Signale (ESP) untersuchen soll. Dazu ein Sony-Offizieller: "There might be a new type of communication system out there, a system that transmits data through mediums we've never before considered. We don't know, but we're trying to find out." (2)

"Technology is society made durable" (3) hat ein britischer Soziologe einen Aufsatz über die sozialen Implikationen von Technologie Anfang der 90er betitelt. In Gibsons Romanen erschien (Kommunikations-)Technologie in diesem Sinn als Ausdruck bestimmter sozialer und ökonomischer Realitäten und Strukturen. Am Rand medialer Wahrnehmung scheint immer wieder das auf, was sie eigentlich zu verschleiern versucht, nämlich die strukturellen Machtverhältnisse, die ihr zugrunde liegen. In den "Fragments of a hologram rose" wird gleich zu Anfang Gibsons Position für alle späteren Texte festgemacht: "Er kaufte eine ASP-Kassette, die damit anfing, daß der Proband auf einem ruhigen Strand schlief. Sie war in 20-20-Optik aufgenommen von einem jungen blonden Yogi mit einem außergewöhnlich exakten Farbempfinden. Der Knabe war nach Barbados geflogen worden, um auf einem herrlichen Privatstrand ein Nickerchen und seine anschließende Morgenübung zu machen. (..) Er hatte es nur einmal geschafft, das ganze Ding am Stück durchzumachen, obwohl er mittlerweile jede subjektive Empfindung der ersten fünf Minuten kannte. Die interessanteste Stelle dabei war für ihn ein Schnittfehler am Beginn der langwierigen Atemübung: ein kurzer Schwenk den weißen Strand hinunter zu einem Wachposten, der an einem Maschendrahtzaun patroullierte und eine schwarze Maschinenpistole umgehängt hatte." (4)

In Gibsons Universum spielt rein ökonomisch bedingte und legitimierte Macht eine zentrale Rolle. Der Staat scheint mehr oder weniger verschwunden zu sein. Außerhalb der militärischen Ordnungen, die legale und illegale Firmenkonglomerate überall dort errichten, wo es die Sicherung und Maximierung von Profiten notwendig erscheinen läßt, herrschen Willkür und Anarchie. Auch das Netz fungiert als Infrastruktur, Repräsentation und Metapher für die Machtverhältnisse in einer globalisierten Ökonomie: Den console cowboys der Neuromancer-Trilogie erscheinen die informationellen Wesenheiten multinationaler Unternehmen als undurchdringbare Datencluster im Cyberspace. Dieser dreidimensionale Raum erinnert an die vormoderne Organisation von Herrschaft und Wissen des katholischen Mittelalters, mit dem nur graduellen Unterschied, daß dessen Herrschaftswissen hinter den manifesten Mauern von Klosterbibliotheken verwahrt wurde. In dieser Situation erscheint der Hacker als beinahe historisch legitimierter Nachfolger von Häretikern und Revolutionären. Gibson kann dabei auf eine längere Tradition zurückgreifen: Die Figur des Hackers taucht bereits kurz in Antonionis romantischem Anarcho-Epos "Zabriskie Point" von 1970 auf, nämlich als technisch versierte Ausgabe des Pranksters, der den Computer seines Institutsleiters sabotiert.

In "Idoru" hat Gibson von der inzwischen nicht nur überstrapazierten Figur des Hackers mehr oder weniger Abschied genommen. Für die 'libertären' Ideologen unter der kybernetischen Sonne Kaliforniens ist der Hacker ja mittlerweile zur Ikone eines individualistischen Cyberkapitalismus geworden, der mit den 'Cyber Rights' nurmehr vordergründig die 'Informationsfreiheit' verteidigt. Die Protagonisten "Idorus" sind ganz im Gegenteil Menschen wie du und ich, genauer: Ein pubertierendes Mädchen und ein Profi für Netzrecherchen. Letzterer gehört gerade zu jenem Personenkreis, für die der Hacker-Mythos im real-existierenden Kalifornien integrativ wirken soll. Mit ihm werden Menschen angesprochen, die sich als Ein-Mann-Unternehmen und Zeitarbeiterinnen in einer sozialdarwinistisch organisierten Wirtschaft des Hire and Fire verdingen müssen. Laney scheint keinerlei Ehrgeiz zu besitzen, er ist die End-of-the-20th-Century-Version des Manns ohne Eigenschaften, der nur einmal selbstbestimmt handelt - ohne sich darüber bewußt zu sein, was ihn dazu getrieben hat: "I don't know what I thought I was doing ... It felt like something snapped. A rubber band. It felt like gravity." Derjenige, der das merkwürdige Gravitationsgefühl erklären kann, ist professioneller Personenschützer und hat einige Zeit in einem australischen Hochsicherheitsgefängnis verbracht: "That's what it feels like when you decide." Diese erste Ausübung seines freien Willens markiert für Laney gleichzeitig das Ende seiner kurzen Karriere in einem System, das Individualität auf wenige, im Rahmen von Unternehmensphilosophien festgelegte Verhaltensweisen beschränkt. Subjekte erscheinen in Gibsons Welt dementsprechend beinahe ausschließlich als Indikatoren struktureller Verhältnisse.

Bevor Laney seinen Arbeitsplatz bei dem Medienunternehmen 'Slitscan' verliert, verschafft er uns jedoch einen detaillierten Einblick in die kommende Medienindustrie. Gibson hat sich offensichtlich ausführlich mit kontemporären Medienstrukturen, Marketingstrategien und Starsystemen beschäftigt. Referenzwerk Nummer Eins war Karl Taro Greenfelds "Speed Tribes - Children of the Japanese Bubble", das das breite Spektrum jugendlicher Subkulturen im boomenden Japan der 80er und 90er beschreibt. Der Grundidee von "Idoru" entspricht dem aktuellen Stand japanischer Popkultur. Idorus werden hier die fabrikmäßig und jeden Monat massenhaft lancierten Girlie-Popstars genannt, von denen jeder weiß, daß sie nur die menschlichen Oberflächen einer hocheffizient arbeitenden Kulturindustrie sind, wie Gibson in einem Interview erklärt hat. Wenn diese Maschinerie aber erst einmal funktioniert, werden die Mädchen selbst irgendwann obsolet. So kam es zu einer ersten Idoru, die keinerlei Grundlage in der Wirklichkeit hatte, sie war ein rein virtuelles, nur auf Fotos und Tonträgern existierendes Produkt. Weitergedacht hat ein solches Produkt für die Industrie den Vorteil, auf fünf Kanälen gleichzeit präsent sein zu können, niemals schlafen zu müssen, exakt programmierbar zu sein und schließlich und endlich keinen menschlichen Eigensinn mehr zu besitzen. Gleichzeitig scheinen die jugendlichen Konsumenten einer gänzlich virtuellen Idoru gerade diesen Aspekt von Künstlichkeit besonders faszinierend zu finden. Inzwischen hat die japanische Management-Agentur HoriPro das Idoru Kyoko Date entwickelt. (5) Sie besteht aus 40.000 Polygonen, allein zehn Designer haben sich mit der Ausarbeitung ihres Gesichts beschäftigt. Ihre 'Persönlichkeit' erfüllt realistische Anforderungen, sie entspricht dem durchschnittlichen japanischen Mädchen im Alter von 17 Jahren. Manga-Comics und Zeichnen sind ihre Hobbies, ihre Lieblingsschauspieler sind Christian Slater und Kyozo Nagazuka. Sie singt, arbeitet aber gleichzeitig in einem Fast-Food-Restaurant. Ihre Biographie wird demnächst erscheinen, inzwischen hat sie bereits einige Singles herausgebracht.

Gibson war mit seiner virtuellen Idoru Rei Toei der Programmierung von Kyoko Date nur knapp voraus. Diese extreme Nähe zu aktuellen Entwicklungen unterscheidet "Idoru" klar von Gibsons Frühwerken, die für ihre Visionen von Medien- und Netztechnologien nur rudimentäre Ansatzpunkte in der Realität benutzen konnten. Der Grund für Gibsons Wechsel zu einer Perspektive, die der Gegenwart nur ein paar Stunden vorauszusein scheint, dürfte zum einen in der heftigen Beschleunigung kultureller Trends und technologischer Entwicklungen der letzten zehn Jahre liegen. Die ganze bizarre Geschichte der japanischen Aum Supreme Truth ist derartig mit Science Fiction angereichert, daß es tatsächlich müßig erscheint, sich solche Geschichten weiterhin auszudenken. Die Supreme Truth selbst ist gleichzeitig wohl die erste Organisation in der menschlichen Geschichte, deren Philosophie sich nicht auf eine Mythologie, Religion oder materialistische Wissenschaft bezieht, sondern auf Science Fiction, nämlich die "Foundation"-Trilogie Isaac Asimovs. Andererseits scheint Gibson in der selben Zeitspanne seine eigenen Speichermedien mit einer ausreichenden Fülle ökonomischer Daten, soziologischer Beobachtungen und seltsamer (sub)kultureller Phänomene angereichert zu haben, um den Blick möglichst direkt ins Hier und Jetzt zu lenken. In Bezug auf seinen Protagonisten Rez, die Hälfte des megaselling Starduos Lo/Rez, hat Gibson in einem Interview erklärt: "I've met, in the course of my career, some big rock celebrities. I met Bowie, Jagger and I'm kind of on speaking terms with U2 now. I was always very intrigued by what's that like, that whole bizarre business of the enormous mechanism that surrounds an artist like that. You go through this maze of smaller and smaller circles. And when you get to the center, there's just a guy. But it's a guy who's kind of charged with the energy of this system - and he isn't just a guy anymore, there's something else going on there." (6)

Trotz der weiterhin spürbaren Neugier Gibsons an den erstaunlichen Dingen, die da vor sich gehen, fehlen in "Idoru" alle irgendwie metaphysisch anmutenden Anspielungen in Bezug auf Technologien, die man in seinen frühen Werken immer wieder finden konnte. Vor allem das Netz erzeugte in diesen Romanen immer wieder seltsame Phänomene, die je nach Perspektive der Handelnden 'rational' oder im Rahmen eines magischen Denkens erklärt wurden. Gibsons Rückgriff auf die Wesenheiten der Voodoo-Mythologie, die den Cyberspace bevölkern, korrespondiert dabei mit der Feststellung, daß sich in den säkularisierten, modernen Gesellschaften aufgrund der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher und technologischer Systeme ein re-animiertes magisches Alltagsdenken herauszubilden scheint. In "Idoru" wird einer esoterischen Interpretation dieser Handlungselemente, die früher nie ganz abwegig schien, endgültig eine Absage erteilt: Laney, der im Netz sogenannten 'nodal points' in den Datenmustern von Menschen nachspürt, erklärt sich seine besondere Befähigung im Erkennen dieser Muster mit einem Talent zu scharfer Beobachtung. (Als er die Daten einer jungen Frau observiert, drängt sich ihm unvermittelt aber heftig der Verdacht auf, daß sie gerade ihren Selbstmord vorbereitet. Er erkennt aber einige Zeit später, daß sich diese quasi-telepathische Wahrnehmung ganz rational aus kleinen, irgendwie untypischen Veränderungen im Konsumverhalten der beobachteten erklären ließ). In diesem Zusammenhang hat sich Gibson auch immer mit der philosophischen Frage auseinandergesetzt, wie so etwas wie künstliches Bewußtsein entstehen könnte. Auch wenn sich Künstliche Intelligenzen in der "Neuromancer"-Trilogie tummeln, hat Gibson offensichtlich die Version favorisiert, daß die Entstehung eines nicht-menschlichen Bewußtseins woanders erreicht werden würde, als man es vermutet, was angesichts des desolaten Zustands der realen KI-Forschung auch nicht weiter verwundert. In seinem neuen Buch ist es die virtuelle Idoru Rei Toei, die am ehesten einer künstlichen Intelligenz nahekommt. Die Tatsache, daß Popstar Rez die Idoru 'heiraten' will, spricht dann auch eher für seinen quasi-virtuellen Charakter als Medienpersönlichkeit, der sich aus der sozialen Organisation des oben beschriebenen Starsystems erklärt, als für die menschliche Qualität von Rei Toei.

Rei Toei's Persönlichkeitsfeatures ergeben sich fast von selbst aus den Erwartungen ihrer zukünftigen Fans, die sich wiederum in deren Daten wiederfinden lassen. Rei Toei verleibt sich diese Daten, Texte, Visualisierungen ein, um von ihnen zu lernen. Rei Toei ist eine Ikone des Marketing. Es sind Shows wie 'Slitscan', für die Gibsons Protagonist Laney arbeitet, die über die Zukunft von Stars entscheiden: "Slitscan was descended from 'reality' programming and the network tabloids of the late 20th century." Shows wie Slitscan sind die Medien, sie vereinigen die uns bekannten Formate endültig in einem Megamedium. Sie entscheiden, wie die 'Wirklichkeit' auszusehen hat und sie wissen, wer ihre Stars und wer ihre Konsumenten sind. Denn alle hinterlassen Datenspuren in den riesigen Netzwerken, die es nur richtig zu interpretieren gilt. Marketing ist die erste Technik zur Steuerung eines Kundenpools, den man früher 'Gesellschaft' genannt hätte. Laneys Boss Kathy erklärt ihm: "It's often easiest for us to identify at the retail level, Laney. We're a shopping species. Find yourself buying a different brand of frozen peas because the subject does, watch out."

Gibsons Reinterpretation der Netze als Plattformen, auf denen sich Popkultur und die Zielgruppenforschung der Konzerne untrennbar miteinander verbunden haben, stellt das stärkste und interessanteste Statement "Idorus" dar. Alle ökonomisch relevanten Handlungen von Individuuen werden durch die entsprechenden Daten im neuen, entzauberten Cyberspace repräsentiert, die Erforschung der Kundenbedürfnisse und das entsprechende Marketing werden zum ersten Instrument gesellschaftlicher Steuerung. Diese Erforschung und Steuerung der Shopping Species erinnert nicht von ungefähr an die etatistischen 70er Jahre, auch wenn aus Bürgern inzwischen Konsumenten geworden sind.

Der Chefideologe staatlicher Überwachung im Deutschland der Siebziger, BKA-Chef Horst Herold, agierte an der Schnittstelle von technokratischem Marxismus und Systemtheorie. Für ihn bestand "die Hauptaufgabe des Bundeskriminalamts darin, das in riesigen Mengen angehäufte Tatsachenmaterial zu allen abseitigen, abweichenden Verhaltensweisen in der Gesellschaft forschend zu durchdringen, um rationale Einsichten der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, ihr eigenes Rechtssysem zu korrigieren und Instrumente bereitzustellen, die Kriminalität zu verhindern. ... Dieses ganze riesige Instrumentarium, tagtäglich von etwa einer Viertelmillion Polizisten ausgeübt und eingeschwemmt, dieses gewaltige Material wird einfach ignoriert. ... Wir müssten zunächst einmal die gewaltige Datenmenge mehrdimensional miteinander verknüpfen können. Die heutige Technik würde das bewältigen können. Wenn die Datenneurose nicht wäre, wäre das eine einfache Sache. ... Das ganze Wissen liegt herum, nur wir wissen nicht, was wir eigentlich wissen. Daß man dieses Wissen nicht ausschöpfen kann zu einem Gemälde der Gesellschaft! Dies würde doch die Möglichkeit einer Therapie eröffnen. Oder anders gesagt: Was ich anstrebe, ist die Polizei als gesellschaftliches Diagnoseinstrument." (7) Schon am Anfang professioneller Marktforschung hatten sich die Ideen von der wissenschaftlichen Steuerung der Gesellschaft und die der exakten Bestimmung von Konsumentenbedürfnissen getroffen: Paul Lazarsfeld, der in den USA mit seiner radio research schon Adorno über die Funktionsweise der Kulturindustrie informierte, bezeichnete sich selbst als Marxisten auf Urlaub.

Was Herold nur ansatzweise erreichen konnte, wird in einer globalen Ökonomie, die sich auf dem Hintergrund der Netze abspielt, zur Selbstverständlichkeit. Kreditkartenunternehmen betreiben bereits heute ein lukratives Geschäft mit den Konsumprofilen ihrer Kunden, vor kurzem erstand ein britischer Bekleidungshersteller die credit reports von 190 Millionen Amerikanern von der TRW Credit Data Inc. Das Unternehmen besitzt jetzt die Finanzprofile von 708 Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Die Citibank verlieh bereits an Kunden vergebene Kreditkartennummern an den Secret Service, der sie dann für verdeckte Operationen benutzte. Und Microsoft schickte kleine Softwarespione auf die Festplatten seiner Microsoft Network Kunden, die nach Hause zurückgekehrt über die Verwendung bestimmter Programme Bericht erstatteten. Vor allem für das World Wide Web werden völlig neue Methoden verdeckter Ausspähung von Bewegungsprofilen und Kaufgewohnheiten installiert. Das New Yorker Unternehmen DoubleClick sammelt die Nutzerprofile von Surfern, mit deren Hilfe spezielle Softwarelösungen beim Zugriff auf bestimmte Sites in Millisekunden entscheiden, welche speziell auf den User zugeschnittene Anzeige auf der Site erscheint. Seit März '96 hat DoubleClick die Profile von ungefähr 10 Millionen Websurfern erfasst. Während die Agenten des BKA abweichendes Verhalten in der Gesellschaft studierten, um ihr eine rationale Diagnose des psychisch kranken Volkskörpers zur Verfügung stellen zu können, durchdringen heute Trendscouts die Zielgruppen. Was heute abweichendes Verhalten ist, könnte sich morgen schon als kulturell abgesichertes Konsumverhalten erweisen.

'Kritische Öffentlichkeit' ist in "Idoru" vollständig zu einem eigenständigen Spartenformat geworden, hier repräsentiert durch die Netzshow 'Out of Control'. Ein 'meta-tabloid', wie der "Idoru"-eigene Soziologe Yamazaki erklärt. Im subversiven Popunderground "Idorus" greift man als Antwort auf diese Simulation baudrillardschen Ausmaßes recht hilflos auf die Cut-Up-Techniken des alten Infowarriors William S. Burroughs zurück. Der entsprechende Absatz liest sich wie eine Rezension aktueller Plunderphonics: "The logic of these cut-ups, he supposed, was that by making one you could somehow push back at the medium. Maybe it was supposed to be something like treading water, a simple repetitive human activity that temporarily provided at least a parity with the sea. But to Laney, who had spent many of his waking hours down in the deeper realms of data that underlay the worlds of media, it only looked hopeless." Die vielbeschworenen befreienden Aspekte von Technologie haben unter dem kühl sezierenden, fast schon soziologischen Blick Gibsons beinahe jeden Halt verloren. Wenn auch aus einem invertierten Killfile, jenen Softwareagenten, die schon heute unerwünschte Junkmail eliminieren, eine virtuelle Gegenwelt im "Idoru"-Universum entsteht, vermittelt sie am Ende doch nur das Gefühl eines letzten Rückzugsgefechts in Freiräume, die der Phantasie noch irgendeinen Raum bieten. Die aus der genauen Beobachtung kontemporärer Verhältnisse antizipierte Entwicklung hat - zurück in der Gegenwart - beinahe jeden utopischen Charakter verloren. Übrig bleibt dann nur der Rückgriff auf wirkliche, materielle Dinge, durch menschliche Arbeit hergestellt, die die Simulationen der Medien nie obsolet machen werden: "It's there one day, she said, and you can look at it, and touch it, and know whether or not it's good or bad." Was für den "Cyberpunk" Gibson wie für die beispielhafte Düsseldorfer Band SYPH Anfang der 80er noch subversive Taktik der Affirmation einer kapitalistisch-industriellen Welt und von Modernität an sich war und damit im Fall des einen auf schlechte Fantasyromane und im Fall der anderen auf unhaltbare Hippieutopien verwies, könnte sich im postindustriellen Zeitalter von SimCity also in eine ernstzunehmende Forderung zurückverwandeln: Nämlich zurück zur U-Bahn, zurück zum Beton! Wir anderen sehen uns vermutlich in der Franz-Kafka-Theme-Bar wieder.

  1. William Gibson: Idoru, New York 1996
  2. Steven Kotler: ESP: Extra Sony Perception; WIRED September 1996
  3. Bruno Latour: Technology is society made durable, in: John Law (Hg.): A Sociology of Monsters: Essays on Power, Technology and Domination; Sociological Review Monograph 38, London /New York 1991
  4. Fragmente einer Hologramm-Rose, in: William Gibson: Cyberpunk, München 1988
  5. http://www.etud.insa-tlse.fr/~mdumas/kyoko.html
  6. http://www.salon1999.com/weekly/gibson3961014.html
  7. zitiert in: Rudolf Lindner / Bertram Wohak / Holger Zeltwanger: Planen, Entscheiden, Herrschen, Hamburg 1984







last update: 2.3.1997

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