ReBoot ReVisited.
Über selbstbezügliche Karten, Echtzeitmedien und Erkenntnisloops.

Martin Conrads




Vor einigen Wochen schickte mir meine Bank eine Kreditkarte zu, auf der die Umrisse eines verzerrten Europa abgebildet sind. Dabei ist es natürlich völlig unwichtig, ob auf der Karte Europa oder das Innere eines Großrechners abgebildet ist. So, wie Europa da designed ist, möchte man dort sowieso nichts zu tun haben (und wird es auch nicht...). Offensichtlich soll die Abbildung aber dennoch etwas bedeuten wie den Raum, in dem die Karte gelesen werden kann - was gleichzeitig das Innere eines EC-Automaten sein kann, als auch die Grenzen eines Vertragssystems darstellt, außerhalb dessen die Karte ungültig, da unbenutzbar wird. Das letztere unterscheidet diese Karte somit nicht wesentlich von herkömmlichen Landkarten, das erste verweist jedoch auf einen Umstand, den man sich mit Michel de Certeaus Unterscheidung zwischen dem Ort als der "Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden" (1) und dem Raum als einem "Ort, mit dem man etwas macht" (2) erklären kann: Die Orte dieser Karte kann ich zwar in Beziehung setzen (Europa und das Innere eines EC-Automaten), ihren Raum kann ich jedoch nicht selbst lesen (das macht entweder das Vertragssytem oder das Innere eines EC-Automaten).

Dabei scheint diese Karte also mit de Certeau einer Logik zu folgen, die mit der Selbstreferentialität denkt und mit der Maschinenlesbarkeit spricht: "Die Karte siegt immer mehr über die Abbildungen; sie kolonisiert den Raum; und sie eliminiert nach und nach die bildlichen Darstellungen derjenigen Praktiken, die sie hervorgebracht haben. Die Karte bringt also auf derselben Ebene heterogene Orte zusammen, die einmal von einer Tradition übernommen und ein andermal durch Beobachtungen erzeugt werden. Wesentlich ist dabei die Beseitigung der Routen, die, indem sie das eine voraussetzen und das andere bedingen, tatsächlich den Übergang vom einen zum anderen sichern. (...) Die Karte, dieser Gesamt-Schauplatz, auf dem die ursprünglich disparaten Elemente vereint sind, um ein Bild vom 'Stand' des geographischen Wissens zu geben, verbirgt mit ihren Voraussetzungen und Folgen, wie hinter den Kulissen des Theaters, diejenigen Handlungen, deren Ergebnis oder deren künftige Möglichkeit sie ist. Sie allein bleibt übrig. Die Beschreiber von Wegstrecken sild verschwunden." (3)

Gleichzeitig werden Kreditkarten nur dann, wenn sie in maschinelle Symbiose mit dem Geldautomaten treten, zu "Karten, die einen eigenen Ort bilden, an dem die Produkte des Wissens ausgestellt sind, Schaubilder mit ablesbaren Resultaten" (4) , das dann aber umso produkthafter. Der Kontostand ist die Wegmarke für die nächsten Tage, Wochen, Monate - je nach Maßstab. 1:1 ist das nie. Die Bargeldlosigkeit ihres Besitzers, der Nicht-Ort ihrer Verwendung, ihre rein technische Lesbarkeit, die plakative Signalhaftigkeit, die Bemühtheit um performative Aussagen durch den Automaten: daß die heutzutage meistgelesenen Karten nur an so unspektakulär überheizten Unorten wie Sparkassenvorräumen und Kassen gelesen werden können, verweist auf eine ganzes Pluriversum kultureller Spätkapitalismen: Die Neunziger haben davor noch weniger Scheu denn je und weisen eine Reihe ausdifferenzierter Variationen des Prinzips 'Unort' auf. Themparks (5) und Malls, meist als gängigstes Prinzip dieser Praktik angeführt, sind zwar in ihrer ganzen Bandbreite noch nicht in jedem Nahverkehrsbereich zu finden, wohl aber der bedienungsfreundlichste Spezialfall bezahlbarer Utopien. Denn wer würde in Oberhausens CentrO im vorösterlichen Einkaufskampf allen ernstes nach seiner individuellen Peripherie suchen, wenn er sich dabei eingestehen müßte, diese mit dem geparkten Auto unauffindbar abgestellt zu haben: "Sämtliche Aufforderungen, denen wir auf unseren Straßen, in unseren Einkaufszentren oder an den Vorposten des Bankensystems begegnen, richten sich unterschiedslos an jeden von uns ('Vielen Dank für Ihren Besuch', 'Gute Reise', 'Wir danken für Ihr Vertrauen'), und zwar an jeden beliebigen von uns: Sie erzeugen den 'Durchschnittsmenschen', der als Benutzer des Verkehrs-, Handels- oder Bankensystems definiert ist. Sie erzeugen ihn, und am Ende individualisieren sie ihn: Auf manchen Straßen und Autobahnen erscheint plötzlich eine Leuchtschrift (110! 110!) und ruft den allzu eiligen Autofahrer zur Ordnung. (...) Jede Kreditkarte trägt einen individuellen Code, der es der Maschine gestattet, dem Kartenbesitzer Informationen zukommen zu lassen und ihn zugleich an die Spielregeln zu gemahnen: 'Sie können 600 Francs abheben.' (...) Allein, aber den anderen gleich, befindet sich der Benutzer des Nicht-Ortes mit diesem (oder mit den Mächten, die ihn beherrschen) in einem Vertragsverhältnis. Die Existenz dieses Vertrages wird ihm bei Gelegenheit in Erinnerung gerufen (die Benutzungsordnung des Nicht-Ortes gehört dazu): Das Flugticket, das er gekauft hat, die Karte, die er an der Zahlstelle vorweisen muß, und selbst der Einkaufswagen, den er im Supermarkt vor sich her schiebt, sind mehr oder minder Zeichen dieses Vertrages." (6)

Und: In der Retrospektive auf das 21. Jahrhundert liest sich so etwas später zumeist, als habe man es nicht schon zuvor geahnt - es liegt also doch ein anthropologischer Masterplan vor: "The Greeks built their temples and theaters, the Romans their baths and roads and bloody circuses. Generation upon generation of medievals raised cathedrals from the shit to the glory of God, the Renaissance doges and Princes of the Church scattered casas and palazzos across the north Italian littoral. The Georgians set their elegant Palladian mansions in vistas of landscaped Arcadia, the Victorians erected their railway stations and public conveniences. The architecture of each age embodies the spirit of ist times. The late-twentieth/early-twenty-first century built malls." (7)

Apropos Vorostern-Malls: Dabei kann es zu heftigen Orientierungschwierigkeiten kommen, wie diese winzige Geschichte von Ror Wolf zu berichten weiß: "Drei Tage ist ein Mann im Einkaufszentrum von Utrecht auf der Suche nach dem Ausgang umhergeirrt. Er hatte im vorösterlichen Gedränge die Orientierung verloren. Nach seiner Rettung erklärte der Mann, er habe es nicht gewagt, nach dem Ausgang zu fragen." (8) Bei all den elektronischen Zeichen und semiotischen Bugs kann so etwas passieren, muß es aber nicht: Mit einem Geschäftsbrief hätte man das sicher verhindern können:"Empfehlungsbriefe sind eine vortreffliche Sache, wenn man auf eine Geschäftsreise geht, aber Geschäftsreisen haben, wie schon der Name sagt, mit dem echten Reisen nichts zu tun. Wenn man als unempfohlener Reisender auf die Annehmlichkeiten verzichten muß, im Fremden Land von Freunden bewirtet und wie am Schnürchen durch die gesellschaftlich gleichberechtigten Schichten geleitet zu werden, so kann man sich dafür die größere Sensation gönnen, wie ein Wandervogel im Walde ganz auf die eigene Erfindungsgabe angewiesen zu sein. Man kann den Beweis ablegen, daß man imstande ist, sich sein Brathuhn im Notfall durch Zeichensprache zu bestellen und sich in der Stadt Tokio mit Hilfe des nächsten Polizisten zurechtzufinden. Wer so reist, hat zum allermindesten den Vorteil, daß er auch zu Hause nicht mehr so kindlich am Gängelband seines Chauffers und Haushofmeisters zu gehen braucht." (9) Mit alten Medien wie Briefen ist allerdings in einer Stadt wie Tokyo heute alleine nichts mehr auszurichten. Die Protagonisten in William Gibsons 'Idoru' orientieren sich dort zumindest nur noch anhand elektronischer Buchstaben und abstrakter Zeichen: Werbung hat den Platz der Ordnungsmacht eingenommen; sie wird zur Legende einer säkulariserten Geopolitik und zur ästhetischen Wegmarke von Kontrollgesellschaft: Diesen Satz kennt man schon.

Reizvoll ist es bisweilen immer noch, von Simulationen zu reden, nämlich dann, wenn es sich dabei neben räumlichen Medien wie Städten und Malls auch um herkömmlich optische- und Printmedien handelt: Auch sie sind angefüllt mit Nicht-Orten, die sich nicht selbst erklären und ihre Benutzer fast in den Wahnsinn treiben.

-> Fast fatal ergeht es dem Erzähler in Adolfo Bioy Casares' 'Morels Erfindung' (10), der sich, auf einer Insel gestrandet, von Menschen umgeben sieht, die ihn nicht wahrnehmen zu können scheinen oder ihn -so die Vermutung- komplett ignorieren. Nachdem er sich in wochenlanger Beobachtung des gesellschaftlichen Lebens in eine der anwesenden Damen aus den besseren Kreisen verliebt hat, findet er schließlich heraus, daß alles Wahrgenommene nur eine komplexe visuelle Aufzeichnung eines Erfinders -Morel- ist, der die Insel mitsamt allen anderen Personen schon vor geraumer Zeit verlassen und die Aufzeichnungen weniger, längst vergangener Stunden als komplett animiertes Hologramm und visuellen Loop zurückgelassen hat.

-> Als der astronautische Pilot Pirx auf Raumpatrouille fliegt (11) taucht auf seinem Monitor - dem einzigen Kontakt zur universalen Umwelt außerhalb seines Raumschiffes - ein Lichtpunkt auf, der ihn in waghalsige Manöver treibt. Mal scheint es, also verfolge ihn das Objekt, dann scheint es sich zu verstecken, unternimmt unnötige Flugkapriolen oder taucht unvermutet aus dem Nichts wieder auf. Pirx, der alle Möglichkeiten über den Ursprung des Projektes in Erwägung zieht -vom alten Wrack zu einem extraterrestrischen Flugkörper- wird in letzter Minute, gerade ist er dabei, seinen Verstand zu verlieren, gerettet. Das Signal war nur ein Irrlicht, ein Rückkopplungsfehler des Monitors selbst. Alle Flugbewegungen des Objekts waren zeitversetzte Impulse seiner eigenen Flugroute. Astronautenglück.

-> "Unfortunately, I may be caught in yet another recursive loop: maps are themselves a reflection of how we construct space, of what we consider linkable, bridegeable, or offlimits, out of bounds, or the same and different. And if our ways of travelling change, for a while the old maps, adapted to different ways of moving, may be the only way we have of imagining our relationship with space." (12)

-> die zeitgenössische Variante geschilderter Erkenntisloops und Großraumkrankheiten ist digital: In der TV-Computeranimationsserie ReBoot (13) stellt sich die Festplatte eines Großrechners als komplett ausdifferenzierter Mikrokosmos dar, dessen Bewohner (allesamt Daten) ein Leben in mythischer Unsicherheit führen: bei dem Signal "Reboot!" werden unregelmäßig und unvermutet jeweils neue Computerspiele über das ganze Setting gestülpt, die die handelnden Nullen und Einsen (plus einigen anthropomorphen Protagonisten) zu Überlebenskämpfern werden lassen. Dabei finden sich diese mal als Olymioniken, mal als Korsaren, mal als Nanotechniker wieder. Gelänge es ihnen nicht, das Spiel gegen den metaphysischen User zu gewinnen, würden sie erbarmungs- und ausnahmslos gelöscht (was glücklicherweise nie geschieht). Der einzige Charakter, der den Geist der Aufklärung in sich trägt und es als Mission versteht, ein "Außerhalb" der ReBoot-Welt konstruieren zu wollen, kommt bezeichnenderweise aus dem Netz: "I come from the net. They say The User lives outside the net and inputs games for pleasure. No one knows for sure, but I intend to find out!" - was sich epistemologisch mit jenem Holzschnitt des 16.Jahrhunderts deckt, auf dem der Mensch durch den Orbit stößt, um das Räderwerk des Himmels zu schauen. Abgesehen davon, daß die Serie 'City of Quartz' gelesen haben muß (die Stadtteile heißen Lost Angels oder Baudway) (14) , wird hier das Weltbild der kalifornischen Cyberculture (die Serie kommt übrigens aus Kanada) mit allen Prinzipien von Computerarchitektur und Popreferenzen verbunden. Darüber wird noch zu rechnen sein...

Der Trend geht dahin...
...Weltbild und Architektur so weit einander anzugleichen, daß die Simulation von Weltbildern immer mehr Ähnlichkeit zum Gegenstand ihrer Untersuchung erlangt: der Welt selbst. Man kann das von besagten Shopping-Malls zurückverfolgen bis zu Boullées Vorschlag für ein Newton-Denkmal von 1784 - einem Weltraumsimulator in Form einer riesigen Kugel, ohne Anfang, ohne Ende.... (15)

Das soziokybernetische 'Geoscope' von R. Buckminster Fuller ist da schon wesentlich perfektionierter, nämlich endlich: ausgehend von einer von ihm entwickelten Kartenart, die keinen Part der Erde verzerrt darstellen soll (Dymaxion Sky-Ocean World Map (16) ), sind diese riesigen Minigloben als Spiel gedacht, das einen totalen re-entry ermöglicht: "This strechted-out, football-field-sized world map would disclose the continents arrayed as one world-island in one world-ocean with no breaks in the continental contours. Its scale would be 1/500,000th of reality. Three millimeters or one eight of an inch would represent a mile. A big 1000-foot-long oil tanker would appear to be less than one millimeter or only one fiftieth of an inch in length. A major airport's runways would each be about three millimeters or one eight of an inch long. A major football stadium would measure less than one millimeter or one fiftieth of an inch long at this scale. The great world map would be wired throughout so that minibulbs closely installed all over ist surface could be lighted by the computer at appropriate points to show various, accurately positioned, proportional data regarding world conditions, events, and resources. World events would occur and transform on this live world maps ever-evoluting face. If we had 100,000 light bulbs for instance, each mini-light-bulb could represent 40,000 people - a medium-sized town. Mexico City, New York City, or Tokyo would be a cluster of 250 bulbs. The bulbs could be computer-distributed to represent the exact geographical distribution positioning of the people. Military Movements of a million troops would be dramatically visible. The position of every airplane in the sky and every ship on the world ocean could be computer-control displayed." (17) Dabei dachte Fuller das Geoscope als ein Spiel, das zwischen drei ideologisch konfrontativen Parteien ausgetragen werden könnte, so daß man die Folgen möglicher Konflikte risikokommunikativ und in Echtzeit beurteilen kann (ein Film wie 'Wargames' machte daraus den ultimativen Thrill für eine Generation von Mitachtziger-Nerds): "The objective aim of the game would be to explore ways to make it possible for anybody and everybody in the human family to enjoy the total Earth without any human interfering with any other human and without any human gaining advantage at the expense of another." (18)

Die Frage des Maßstabs soll also anhand vergrößerter Wahrnehmungschancen zum Schlüssel der Erkenntnis werden: Fuller wollte den Konnex von Wissen und Sehen unmittelbar an die Machbarkeit von Maßstäben binden - ein seit Beginn der Neuzeit gern bemühter Gedanke, der mit der Entwicklung optischer Geräte zur Bestimmung von Maßstäben gleichzeitig auch deren Theorie beinhalten sollte: "Sollten sie es schließlich seltsam finden, daß es in einem kleinen Raum ebenso viele Teile wie in einem großen geben sollte, so müssen sie sich klarmachen, daß diese in demselben Verhältnis kleiner sind. Um sich mit diesem Gedanken vertraut zu machen, sollten sie den Himmel durch ein kleines Glas betrachten. Dann werden sie einen jeden Teil des Himmels in dem entsprechenden Teil des Glases wiederfinden. Sollten sie aber nicht begreifen können, daß Teile, die dermaßen klein sind, daß sie unmerkbar für uns bleiben, geteilt werden können wie das Firmament, so gibt es kein besseres Mittel als sie ihnen durch ein Vergrößerungsglas zu zeigen, das diesen unfaßbaren Punkt zu einer unglaubhaften Menge vergrößert. Daraus werden sie leicht erkenen. daß man mit Hilfe noch kunstvoller geschliffener Gläser diesen Punkt so vergrößern könnte, bis er dem Firmament gleichkommt, dessen Ausdehnung sie bewundern. Und so, wenn ihnen nunmehr alles äußerst leicht teilbar erscheint, sollten sie sich daran erinnern, daß die Natur unendlich viel mehr vermag als die Kunst. Denn wer hat ihnen schließlich Gewißheit darüber verschafft, daß diese Gläser die natürliche Größe jener Dinge veränderten, und daß sie nicht vielmehr die natürliche Größe wiederhergestellt haben, die das Abbild in unserem Auge ähnlich den Gläsern, die verkleinern, verändert und verkleinert hatte? Es ist ärgerlich, sich mit diesen Nebensächlichkeiten aufzuhalten; aber es gibt Zeiten des dummen Geschwätzes." (19)

Mit der Möglichkeit zur Vergrößerung der Mikrokosmen wurde gleichzeitig der Beweis erbracht, daß es neben keinem metaphysischen Außen auch kein physisches Innen gibt, das nicht beobachtet werden könnte: "Significantly, microscopes and telescopes also revealed that there could be no rest in nature. There was no such thing as absolute quiescence. Bits ans pieces of organic particles disconcertingly hopped about on slides. Stellar bodies swam in the etheral fluid. Microscopic and macroscopic substance, bacteria and planets, were in perpetual motion." (20) In diesem Zusammenhang interessiert insbesondere die Frage, wie sich durch die Entwicklung neuer Technologien die Landkarte des Körpers neu schreibt. Karten, auf welchen Landstriche und Erdteile als menschliche Organe und Glieder dargstellt werden, gibt es spätestens, seitdem Milet im 9.Jahrhundert B.C. Griechenland als menschlichen Körper skizzierte. Denkt man weiter, wohin diese Metaphorik mit Filmklassikern wie Richard Fleischers "Die phantastische Reise" führte, muß man zur Beantwortung der Frage, wie der Körper im 20. Jahrhundert als Karte interpretiert wird, gar nicht mehr auf Orlan zurückgreifen.

Die Verschaltung von Raum, Zeit, Technik, Macht und Körper ist spätestens seit Negativlands "Time Zones" dekonstruiert. Ein -weitreichend folgenloser- Anschlag auf das Zentrum dieser rationalen Maschine erfolgte jedoch schon Jahrzehnte zuvor: Joseph Conrads "Geheimagent" (der als anarchische Blaupause zu de Certeaus "Kunst des Handelns" - im Original "L'invention du quotidien"- gelesen werden kann) versucht sich am Ursprung allen Übels: "The demonstration must be against learning - science. But not every science will do. The attack must have all the shocking senselessness of gratuitous blasphemy. Since bombs are your means of expression, it would be really telling if one could throw a bomb into pure mathematics. (...) 'Yes', he continued, with a contemptuous smile, 'the blowing up of the first meridian is bound to raise a howl of execration.' (...) 'Go for the first meridian. You don't know the middle classes as well as I do. Their sensibilities are jaded. The first meridian. Nothing better, and nothing easier, I should think.' (21) Das Denken stellt sich im weiteren Verlauf jedoch als Akt heraus, der die Idee des Körpers als Karte bis zur letzten Konsequenz gelernt haben will, denn bei dem Attentat entsteht ein "Enormous hole in the ground under a tree filled with smashed roots and broken branches. All round fragments of a man's body blown to pieces. That's all. The rest's mere newspaper gup." (22) Koordination und Kognition erweisen sich demnach als zentrale Erkenntnismomente: "At this point, cognitive mapping in the broader sense comes to require the coordination of existential data (the empirical position of the subject) with unlived, abstract conceptions of the geographic totality." (23)

Am treffendsten hat Thomas Pynchon die fatale Überschneidung von Karte und Körper als Trauma des Jahrhunderts geschildert. In 'Gravity's Rainbow' ist Tyrone Slothrop, der tragische Held des Romans, seit seiner Kindheit mit der Korrelation von Gewalt und Geschlecht belastet: wo immer er zuvor Sex hat, wird bald darauf eine V2-Rakete einschlagen. Zum Glück für ihn treffen Zeitpunkt von Ursache und Wirkung nie überein, zu seinem Pech wird er den Roman über von allerlei Agenten verfolgt, die seine Konditionierung u.a. zur Vorhersage der Einschlagorte benötigen: "It's the map that spooks them all, the map Slothrop's been keeping on his girls. The stars fall in a Poisson distribution, just like the rocket strikes on Roger Mexico's map of the Robot Blitz. But, well, it's a bit more than distribution. The two patterns also happen to be identical. They match up square for square. The slides that Teddy Bloat's been taking of Slothrop's map have been projected onto Roger's, and the two images, girl-stars and rockert-strike circles, demonstrated to coincide. Helpfully, Slothrop has dated most of his stars. A star always comes before its corresponding rocket strike. The strike can come as quickly as two days, or as slowly as ten. The mean lag is about 4 1/2 days." (24)

Als mit dem Ende des Buches eine Rakete in das Kino einschlägt, in dem der Leser sitzt und soeben das Buch gesehen hat, zoomt die Geschichte der Schwerkraft plötzlich in die Realität zurück. Man versteht das erst endgültig,wenn man einmal mit dem Aufzug des Ars Electronica Center in die Höhe gefahren ist. Der Aufzugboden dort ist ein Display, auf dem zu sehen ist, wie besagter Aufzug selbst aus dem Dach des Gebäudes als Geschoß in den Himmel hochgeschleudert wird - in der Illusion, der Boden des Aufzuges sei aus Glas und dies spiele sich in Echtzeit tatsächlich genau so ab. Fährt man abwärts, wird alles rückwärts projiziert, und der Fahrstuhl scheint mit ungeheurer Geschwindigkeit im Gebäude einzuschlagen, bis er schließlich knapp vor dem Aufprall zu stehen kommt (vgl. hierzu auch Blurs 'Beetlebum' und U2s 'Discotheque'. Und um den Kreis halb zu schließen: Bei 'Single Bilingual' von den Pet Shop Boys zoomt die Kamera in die unendliche Fraktalstruktur einer Kreditkarte hinein, die sich immer wieder neu in Microchips abbildet: "This is what I get paid for" singt Neil Tennant als White Collar-Traveller).

Fiktion und Realität der Raketen- und Zoomtechnik schienen sich in unähnlich spektakulärer Weise zu umarmen, als erst kürzlich die Pressemitteilung veröffentlicht wurde, die Berliner Festspiele beteiligten sich mit einer Botschaft an der CD-ROM, die der bald startenden Raumsonde 'Cassini/ Huygens' auf dem Weg zum Saturnmond Titan mitgegeben wird: "Seit ihrem Bestehen waren und sind die Berliner Festspiele offen für andere Kulturen. Warum sollten wir deshalb nicht versuchen, über die Sonde Huygens Kontakt mit den auf dem Saturnmond Titan lebenden 'fremden Kulturen' aufzunehmen? Die Festspiele laden die Bewohner von Titan herzlich dazu ein, den Berlinern im Rahmen des 1999/2000 veranstalteten Kulturprogramms zu zeigen, welche Bräuche es auf fernen Sternen gibt und wie die Jahrtausendwende auf Titan gefeiert wird."

Dabei liegt offensichtlich ein Mißverständnis vor, denn tatsächlich bedeutet alleine die Tatsache des massenhaft zu begehenden Jahrtausendwechsels -medium is the message- etwas komplett anderes, etwas, das nur der einsame Tralfamadorianer Salo entziffern kann, der auf Titan Raumschiffbruch erlitten hat und nun mit seinem Heimatplaneten auf die schnellstmögliche Weise kommunizieren muß: "He could watch the activities on Earth by means of a viewer on the dash panel of his ship. The viewer was sufficiently powerful to let Salo follow the activities of Earthling ants, if he so wished. It was through this viewer that he got his first reply from Tralfamadore. The reply was written on Earth in huge stones on a plain in what is now England. The ruins of the reply still stand, and are known as Stonehenge. The meaning of Stonehenge in Tralfamadorian, when viewed from above, is: 'Replacement part being rushed with all possible speed.' Stonhenge wasn't the only message old Salo had received. There had been four others, all of them written on Earth. The great Wall of China means in Tralfamadorian, when viewed from above: 'Be patient. We haven't forgotten about you.' The Golden House of the Roman Emperor Nero meant: 'We are doing the best we can.' The meaning of the Moscow Kremlin when it was first walled was: 'You will be on your way before you know it.' The meaning of the Palace of the League of Nations in Geneva, Switzerland, is: 'Pack up your things and be ready to leave on short notice.' (25)

Es kommuniziert sich von selbst, daß Salo, wie übrigens alle anderen Tralfamadorianer, Roboter ist...

Nicht zuletzt deswegen scheint es auch bisweilen -ähnlich wie bei Spengler und Huntington- Abstürze im Chatprogramm zu geben: "Civilizations would start to bloom on Earth, and the participants would start to build tremendous structures that were obviously to be messages in Tralfamadorian - and then the civilizations would pop out without having finished the messages." (26)

Entweder kannte meine Bank diese Geschichte oder sie ist Teil des Tralfamadorianischen Plans (die dritte Möglichkeit wäre Kultursponsoring für die Festspiele GmbH): die beste Millenniumreferenz seit langem war nämlich der Schriftzug auf meiner Kreditkarte, der fett etwa an der Stelle zu lesen ist, wo ein paar Jahrzehnte später das Girosystem erfunden wird: über den Umrissen eines verzerrten Europa stehen die Worte: "gültig bis 1200".

"ReBoot!" (27)




  1. Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1988: 217 f.
  2. ibid.: 218.
  3. ibid.: 224 f.
  4. ibid.: 225.
  5. http://www.best.com/~dijon/disney/parks/disneyland/images/park-map.jpg
  6. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt/Main: S.Fischer 1994: 118 f.
  7. Ian McDonald: Terminal Café. New York et al.: Bantam 1995: 109.
  8. Ror Wolf: Mehrere Männer. Vierundachtzig ziemlich kurze Geschichten, zwölf Collagen und eine längere Reise. Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt 1992: 36.
  9. Lin Yutang: Die Weisheit des lächelnden Lebens. Reinbek: Rowohlt 1960: S.288
  10. Adolfo Bioy Casares: Morels Erfindung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984.
  11. Stanislaw Lem: Die Patrouille. In: Die Jagd. Neue Geschichten des Piloten Pirx. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976.
  12. Mireille Rosello: The Screener's Maps: Michel de Certeau's "Wandersmänner" and Paul Auster's Hypertextual Detective. In: George P. Landow (Ed.): Hyper/Text/Theory. Baltimore& London: John Hopkins University Press 1994: 130.
  13. http://www.inwap.com/reboot/
  14. http://cs.oberlin.edu/students/pjaques/etext/davmurbancont/map.gif
  15. Vgl. J. Krausse: Sphären der Revolution. Architektur und Weltbild der klassischen Mechanik. In: Arch+ 3 (93): 22-31.
  16. http://www.pacificpuzzle.com/~ppc/puzzles/dymax.html
  17. R. Buckminster Fuller: Critical Path. New York: St.Martin's Press 1981: 168.
  18. ibid.: 169.
  19. Pascal. Frankfurt/Main, Hamburg: Fischer 1954: 105.
  20. Barbara Maria Stafford: Body Criticism. Imagining the Unseen in Enlightenment Art and Medicine. Cambridge, Mass. & London: MIT 1993: 348.
  21. Joseph Conrad: The Secret Agent. A Simple Tale. London: Penguin 1990: 67 ff.
  22. ibid: 95.
  23. Fredric Jameson: Postmodernism,or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham: Duke University Press1995: 52.
  24. Thomas Pynchon: Gravity's Rainbow. London: Picador 1975: 85 f.
  25. Kurt Vonnegut: The Sirens of Titan. New York: Laurel 1988: 271 f.
  26. ibid.: 273.
  27. P.S.: "Wer weiß, wenn es die Platinum EuroCard bereits gegeben hätte, wäre Columbus überhaupt je nach indianischem Gold aufgebrochen?" Theodor T. Heinze: Verdammte Weltlichkeit. Zur Kartenkunst zwischen europäischer Antike und American Express. In: Paragrana 3 (94): 346.







last update: 2.3.1997

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