Nacherfundenes
Aschersleben
Réinventée















einleitung

raphaële jeune




"Die Orchidee produziert keine Kopie der Wespe, sondern stellt mir ihr eine Karte innerhalb eines Rhizoms her. (...) Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. Man kann sie zerreißen oder umkehren; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, von einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation angelegt werden. Man kann sie auf eine Wand zeichnen, als Kunstwerk konzipieren oder als politische Aktion oder Meditationsübung begreifen." Gilles Deleuze, Félix Guattari, "Rhizom", in Tausend Plateaus

Denen, die einen Ort nicht kennen, entzieht sich seine Materialität. Ungeeignet für Besonderheiten, Fremd für die Sinne, ist ein unbekannte Ort ein unbestelltes Feld, das für die (In-)Determinationen der Imagination bereit liegt.

Aschersleben ist die Unbekannte von Dominique Boudou, Christophe Gougeon, Frédéric de Lachèze, Yannick Liron, Christophe Marchand-Kiss und Jean-Charles Masséra, sechs Autoren, die diese Stadt verfremden, entwirklichen und neuerfinden. Sechs freie Variationen über eine wahrhaftig Abwesende, die dazu anregt, sich mit Collagen, Verdichtungen, Stimmungen, Erinnerungen, unkenntlichen Orten, Gebrauchsanweisung und Liebesrufen zu beschäftigen.

Und die Abwesende hat recht daran getan, dem freien Fluß von Wünschen und den ungezügelten Projektionen des imaginierenden Bewußtseins keine Beschränkungen aufzuerlegen. Denn aus diesen Texten ersteht der seltsam unendliche Zwischenraum zwischen einer Realität und ihren imaginierten Doubles, die zwangsläufig das Gegenteil von Klonen sind, die variierten Früchte/Triebe ein und desselben Baums/Rhizoms, von dem man nur die Grundzüge kennt - Aschersleben, eine Stadt der neuen Bundesländer, 30.000 Einwohner, im Umbruch - und die schematische Gestalt - seine geographische Karte. Die Autoren hatten zu Beginn nur diese abstrakten, referentiellen Gegebenheiten, waren weit von den Empfindungen, Lebensweisen und Geschichten entfernt, von denen die Karte, diese uneingeschriebene Metonymie, nichts verrät. Aschersleben wurde ihren Kultivierungswünschen als Brachland anvertraut, wie eine virtuelle Welt ohne Furchen, die sie beackert haben, wie es ihrem inneren Drang etwas zu geben entsprach.

Sie haben nicht seinen Geruch eingeatmet, sondern ihn erfunden und erzählen davon. Die Wörter dieses Buches sind zeitweilige Ankerplätze für flüchtige Visionen, die aus den verborgenen Winkeln des Bewußtseins heraufbeschworen werden. Stromaufwärts des Schreibens, die ihren, stromabwärts der Lektüre, die unseren. Jedem sein Aschersleben, ganz nach der Laune unbegrenzter Bilder, jeder virtuelle Einwohner mag im Flug das hier sechsfach erzählte "Als ob" ergreifen.








last update: 2.3.1997

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